Der
russische Teil von Skandinavien war immer geheimnisvoll und
für Westtouristen nur schwer zugänglich. Jetzt (1990) werden
dorthin
‚Polarexpeditionen‘ mit einem Katamaran unternommen.
Das Ziel dieser eintägigen Reise ist Murmansk, die größte
Hafenstadt der UdSSR, der Heimathafen der Eismeerflotte.
Ausgangspunkt für
die Tour ist Kirkenes, das bekannte Dorf in Nordnorwegen an
der russischen Grenze. Die Anmeldung muss mindestens zwei
Wochen vorher erfolgen. Der Reisepass ist erforderlich. Die
Russen wollen schon gerne wissen, wer sie ohne Visum
besucht.
Das
Einchecken morgens im Hafen von Kirkenes geht schnell voran. Um 8
Uhr legt die M/V Varangerfjord in Richtung Barents-See ab. 4.500
Pferdestärken treiben den Katamaran an. Er bietet Platz für 167
Passagiere. Das 38,8 Meter lange Wasserfahrzeug gleitet auf zwei
Kufen über das Wasser und erreicht eine Reisegeschwindigkeit von
35,6 Knoten (rund 70 km/h).
Seekrankheit Kapitän Odo Thorkildsen (43)
begrüßt seine Gäste, und bei ruhiger See ist es bestimmt ein
Vergnügen, die 164 Seemeilen (rund 300 Kilometer) zurückzulegen,
aber bei rauher See sollten alle Vorkehrungen gegen die
Seekrankheit getroffen werden. Praktisch alle Gäste haben dagegen
anzukämpfen. Nach vierstündiger Fahrt erreicht
die ‚Expedition‘ den Murmanskfjord. Vorbei geht es an den Städten
Poljarnyj und
Severomorsk. Im Dunst
sind die unendlichen Schiffsreihen der Eismeerflotte zu erkennen.
Die Varangerfjord
passiert in dem gelben
Nebel ein
aufgetauchtes Militär-U-Boot. Fotografieren verboten! Mittlerweile ist der russische Lotse
an Bord gekommen. Die Fahrt verläuft jetzt ruhig. Die
Expeditionsteilnehmer erholen sich langsam. Auf beiden Uferseiten
erstrecken sich die kilometerlangen Hafenanlagen von Murmansk. Ein gelbgrauer Dunstschleier liegt über der
Stadt. Monotones
Klopfen klingt von den Werften herüber. Links am Ufer ist ein
Schiffsfriedhof. Die ausgeschlachteten Schiffsrümpfe liegen kreuz
und quer, halb im Wasser, halb an Land. Darüber erhebt sich auf
einem 130 Meter hohen Berg der Soldat - ein Brodsky-Mahnmal,
welches 39 Meter hoch und 500 Tonnen schwer an die russische
Verteidigung 1941-45 erinnert.
Um 12.30 Uhr - nach russischer Zeit ist es 14.30 Uhr - legt
die Varangerfjord im Hafen an. An der
Passkontrolle vergleichen die russischen Beamten die Pässe mit
den Namen in ihren Unterlagen. Die Passagiere bekomme einen Passersatz für
die Zeit an Land.
Reisebegleiterin Elena
Am Kai stehen drei Busse, je einer
mit norwegischer, englischer und deutscher Stadtführung. Der
Fahrer des deutschsprachigen Busses heißt Sergej (43). Sicher
leitet er den komfortablen Bus mit dem Stern durch den Verkehr.
Elena Michaelova (45) ist unsere Reisebegleiterin. Mit schwarzem
Haar, Hornbrille, dazu ein roter Rock mit Karomuster, Holzklotschen und ein weißer Sportblouson erzählt sie gut
verständlich einiges über die Geschichte von Murmansk. Der erste Stopp ist am
Heimatkundemuseum. Dieses besteht seit 1926 und berichtet von der
Natur, Geschichte und Wirtschaft der Kola-Halbinsel. Zielstrebig
führt Elena durch die Ausstellungen, die mit viel
Anschauungsmaterial ausgestattet sind. Manchmal betont Elena die
Sätze und Wörter falsch und aus ‚Graniten‘ wird ‚Granaten‘. Die
deutsche Sprache habe sie in Heimarbeit gelernt. Jetzt arbeite sie
mit an russischen Wörterbücher für Deutsch und Norwegisch,
erzählt sie. Murmansk ist die größte Stadt
nördlich des Polarkreises. Durch den Golfstromeinfluss bleibt der
Hafen und die Küste über das ganze Jahr eisfrei. Die Stadt wurde
am 4. Oktober 1916 gegründet. Damals fristete ein Fischer
sein Dasein, jetzt leben hier etwa 450.000 Menschen
(1990).
Bodenschätze
Rund 1.500 Samen sind
ebenfalls auf Kola ansässig. Sie bevölkern die Landschaften seit
über 9.000 Jahren. Die Russen siedelten auf der Kola-Halbinsel erst seit
dem 13. Jahrhundert. Neben dem Schiffsverkehr - ein Viertel
des gesamten Fischfanges der UdSSR wird in Murmansk
abgewickelt - werden überwiegend Bodenschätze gewonnen.
Elena erzählt, dass es leichter sei, in Murmansk einen
Schraubenschlüssel zu bekommen als einen Laib Brot.
Direkte Bahnverbindungen bestehen mit der
Murmanbahn nach Moskau (36 Stunden
für rund 1.500 Kilometer) und nach Leningrad, der nächsten
größeren Stadt in gut 1.000 Kilometer Entfernung (Angaben
beziehen sich auf Luftlinie). Zwanzig Züge verlassen täglich
den Zentralbahnhof in Richtung Süden. Murmansk wird im
Russischem MYPMAHCK geschrieben, was frei übersetzt
‚Nordmann‘
bedeutet.
Die Temperaturen sind auch ‚nordmännisch‘: Im Winter und Sommer liegen die
Durchschnittstemperaturen bei minus 9 Grad und plus 12 Grad, die
Spitzenwerte sind bei minus 30 Grad und plus 30 Grad. Bis zum
Nordpol sind es nur noch rund 2.000 Kilometer.
Polarnacht
In der fast dreimonatigen
Polarnacht haben die Murmansker Auswahl zwischen sieben
Kinos und drei Theater. Den Strom bekommt die Stadt aus dem
200 Kilometer entfernten Kernkraftwerk. Es gibt in Murmansk
zwei Wohnungsgrößen: die Zwei-Zimmer-Wohnung mit 34
Quadratmetern und für große Familien die Drei-Zimmer-Wohnung
mit 43 Quadratmetern Wohnfläche. Andere Alternativen gibt es
laut Elena nicht. Dafür wird oft der kleine Balkon mit
Glasblocksteinen als zusätzliches Zimmer
hergerichtet. Von 1941 bis 1944 versuchten die
Deutschen Truppen vergeblich, die Stadt einzunehmen. Das Thema
Krieg schneidet Elena Michaelova nur kurz an. Die Besucher
dürfen sich nach Elenas Vortrag im Museum umsehen.
Der Rundgang ist zu Ende.
Mit den Bussen fährt die Gruppe zum Hotel Arktica:
1984 erbaut, 18 Etagen und 1057 Betten. Auf die Frage, ob das
Hotel schon mal ausgebucht gewesen war, kommt keine Antwort.
Teilweise sieht es aus wie in einem Rohbau - Nachschubschwierigkeiten, so heißt
es.
Festessen mit Fanta
Festessen ist der nächste
Programmpunkt. Was bietet die Küche? Ein
junges norwegisches Pärchen verzichtet auf den braunen
Erfrischungstrunk und trinkt lieber die mitgebrachte Fanta.
Doch das Essen ist lecker. Es gibt Reis mit Gulasch.
Um 16 Uhr beginnt das Murmansk-Shopping. Alle ‚Expeditions‘-Teilnehmer dürfen sich frei und ohne Auflagen
durch die Stadt bewegen. In der Hotelhalle tauscht ein Westtourist 50
Norwegische Kronen (13 DM) gegen 66 Rubel, natürlich
unter der Hand...
Westwährung
Die Kreuzfahrer sind mit handgezeichneten, fotokopierten
Stadtplänen
ausgestattet und steuern alle zuerst den Beriozka-Laden an, ein staatliches
Souvenirgeschäft. Die Überraschung ist groß, denn dort will die
Kassiererin harte Westwährung und keine Rubel haben. Alles in diesem
Andenkenladen ist zwar wesentlich teurer als in den anderen russischen
Läden, dafür erhält man einen offiziellen Kaufbeleg. Es gibt außerdem zwei Kaufhäuser,
einen Buch- und Kunsthandel, einen Kinderladen, eine Post und eine
Busstation. Das alles bildet das Zentrum der Stadt. Auf der
Straße werden die bunt bekleideten Touristen von jungen Russen auf Englisch angesprochen.
Sie wollen Militärabzeichen und Armeeuhren verkaufen,
natürlich nur gegen Westwährung.
Colgate-Zahncreme
In den Kaufhäusern leuchtet zwischen den grauen russischen Waren die knallig-rote
Verpackung der Colgate-Zahncreme. Man fällt als
'Westler' auf, wird schüchtern oder forsch betrachtet. Ein
junger deutscher Tourteilnehmer versucht mit einem Russen Kontakt aufzunehmen, der mit roten
Nelken in der Hand neben der hiesigen Bibliothek auf der Straße steht. Ein Gespräch kommt
nicht auf - sie können sich noch nicht mal annähernd
verständigen. Freundlich lächelnd fotografieren sie sich
gegenseitig und brechen ihren privaten Ost-West-Dialog ab.
Ritterburg
Um 18 Uhr beginnt die
90-minütige Stadtrundfahrt. Erstaunt erblicken die
Touristen plötzlich
zwischen den grauen Wohnsilos eine Ritterburg mit gelben und
roten Türmchen und Zinnen: ein Kinderspielplatz. Gebaut
wurde diese Anlage, so erzählt Führerin Elena, von Studenten aus
Leningrad. Dieses Bild passt so gar nicht in das Schema
dieser Stadt. Die Westler sind positiv überrascht.
Hoch fahren die Busse auf den Berg, wo das Brodsky-Denkmal
steht. Bei dem Dunst ist die Sicht auf die Stadt und dem
Fjord nicht sehr weit. Danach kehrt die Reisegruppe zurück zur
Anlegestelle und verabschiedet sich von unseren Reiseleitern.
Dabei knistert und klimpert es in den schüttelnden Händen. An der Zollstelle wird kein Tourist näher kontrolliert. Die
Pässe werden zurückgegeben. Um 20 Uhr legt die Varangerfjord wieder
ab. Der Katamaran gleitet vorbei an den beiden
Atomeisbrecher Lenin und Sibir, die in einer
Werft liegen. Bei dem vielen Rost und den Atomsymbolen an den
Schiffsrümpfen wird es manchen Passagieren doch ein bisschen mulmig.
Hinter Severomorsk geht der russische Lotse von Bord. Das Kufenboot flitzt
über die jetzt ruhigere Barents-See zurück nach Norwegen. Um
0.30 Uhr erreichen die müden Kreuzfahrer wieder Kirkenes. Das Abenteuer Murmansk
ist beendet.
Die genannten Zahlen basieren auf dem Informationsstand von
1990 und können heute abweichen.
Die beschriebene Reise ist in dieser Form nicht mehr
möglich. Zudem war sie selbst gebucht und bezahlt.
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