"(...) Und
so fuhr ich denn los von Wiborg aus nordwärts mit der Eisenbahn, entgegen der großen
Sehenswürdigkeit des Landes dem Imatra! Links und rechts von der Bahn sanfte wellige
Linien, lachende Wiesen, auf denen das eben gemähte Gras in Büscheln trocknet, waldige,
besiedelte Höhen, dunkle Seen, freundliche rot angestrichene Häuschen und wieder und
immer wieder die riesigen Holzstapel, diese Zeichen des größten Reichtums, den Finnland
besitzt. Und dann allmählich wird das Auge gefesselt von dem Blick auf einer der
gewaltigsten Ströme Finnlands. Das ist der Wuoksen. Im Saimaasee, dem wir entgegenfahren,
ist er, zusammengeströmt aus unzähligen Rinnsalen, vereint worden zu einer gewaltigen
Wasserfläche, an deren Südosteck er wieder austritt. Alsdann zwängt er sich in allerlei
Stromschnellen über den Landrücken hinweg, die sich ihm entgegenstellen, sammeln sich
noch mal zum ruhigen Strom, bis wieder links und rechts die Felswände des granitnen
Urgesteins bedrängen. Schließlich ist nur noch eine Rinne von neunzehn Metern Breite,
und nun soll die ungeheure Wassermasse sich hindurchfinden durch diese natürliche
Schlucht! Sie vollbringt es mit ungeheurem Aufwand an Kraft, und was sich da begibt,
dieses gewaltige Naturschauspiel entfesselter Naturkräfte, das ist der sogenannte
Imatrafall. Wer aber an einen Wasserfall denkt, der wird etwas enttäuscht sein! Es ist
kein "Fall", wie ihn sich etwa unsere Phantasie vorstellt, sondern die
ungeheuerlichste Stromschnelle, die man sich denken kann. Von einem Wasserfall erwartet
man Absturz aus der Höhe: hier aber beträgt das Gefälle kaum neunzehn Meter auf etwa
einen Kilometer. Was aber den Beschauer in staunende Bewunderung versetzt, das ist der
unvergleichliche Anprall der Wogen. Beinahe fünfhunderttausend Liter Wasser stürzen sich
in der Sekunde durch die Felsenschlucht, und die Gewalt, die in diesen Wasser gebändigt
ist, hat man auf rund einhundertachtzehntausend Pferdekräfte berechnet. Wer dieses
Naturschauspiel genießen will, muss allerdings schon bald nach Finnland, denn viel wird
ihm von seinem Zauber geraubt werden, wenn die finnische Regierung dies Wasserkräfte erst
dazu ausgenutzt hat, den finnischen Eisenbahnen die elektrische Kraft zu geben. Dann wird
die Industrie wieder einmal über die Natur gesiegt haben, und das Landschaftsbild, das
heute, gesehen vom Balkon des großen Staatshotels, noch so urwüchsig ist, wird ganz
anders geworden sein! Wie glücklich war ich, den Imatra noch zu sehen, ungebändigt durch
Menschenhand! Stundenlang kann man hineinblicken in den schäumenden Gischt der wirbelnden
Wasser, kann man hineinhören in das endlose Brausen des Flusses, aus dessen Brandung es
manchmal stählern herausklingt wie Waffengeklirr. Vielerlei erzählen die Einheimischen
von den Stimmen des Wassers, wenn der Wind darüber hinstreicht, der Regen klatscht oder
der Sturm heult. Bald glauben sie Jauchzen zu hören, bald wieder Wimmern, bald Locken und
Singen und bald wieder wilde Schreie. Wer auf der Brücke steht und den heranstürmenden
Wogen entgegenblickt, die, übersprüht von weißen Kämmen, sich jagen und überschlagen,
der kann es verstehen, daß eine magnetische Kraft vom Imatra ausgeht. Was bekommt man da
nicht alles zu hören von den Opfern, welche diese Wasser schon verschlungen haben! Von
dem alten Fischer mit seiner Frau, die so glücklich abgefahren waren, und deren Boot
dann, in den Strudel geraten, am Felsen zerschellte... Von den beiden Bauerntöchtern,
die, gekränkt von übler Nachrede, sich in die rasenden Wogen stürzten und in
Sekundenschnelle ihr Leben verloren... Von dem jungen Mädchen, licht und schlank,
festlich gekleidet wie eine Braut, die zu nahe ans Ufer und urplötzlich in dem weißen
Strudel verschwand. Wie eine Heilige schwebte sie noch dahin, ihr grüner Schleier wehte
zwei- oder dreimal, und dann war sie versunken... Alles Menschliche, das dem Strom zu nahe
kommt, ist unrettbar verloren. Nur die schweren Baumstämme, die man weit oben in den
Saimaasee hineinwirft, sind stärker als der Mensch. Sie tanzen, hingerissen von
unbeschreiblicher Gewalt, wie durch eine Hölle, und finden sich dann doch unversehrt
viele Kilometer weiter unten im Flusse wieder, um dort von den Wächtern aufgesammelt und
zu Flößen zusammengebunden zu werden. (...)". So ist es in dem Buch "Dunkle
Wälder, helle Nächte Von Lappenhof zu Lappenhof" von Gustav Manz
(Brunnen-Verlag / Karl Winkler / Berlin) aus dem Jahre 1928 zu lesen. Die ungeheuren
Wassermassen flossen damals über Stromschnellen, die rund 1.300 Meter lang waren und eine
Fallhöhe von gut 19 Metern hatten.
Drei Blitze Heute erstreckt sich bei Imatra ein Stausee. Dort
gewinnt ein Wasserkraftwerk die Energie für den Süden Finnlands einschließlich Helsinki
und Turku. Es ist eines der größten Energiewerke in Finnland überhaupt. Im Wappen der
Stadt zucken drei Blitze, das Zeichen für Energie. In Imatra im Südosten Finnlands
direkt an der russischen Grenze gelegen leben ungefähr 33.500 Menschen (1996). Früher
war die Gegend an den Stromschnellen eine Touristenattraktion, wo sich sogar schon 1772
die Zarin Katharina II. an der Schönheit der Stromschnellen erfreute. Von 1925 bis 1929
wurde dann das Wasserkraftwerk gebaut, und Südfinnland war um eine Attraktion ärmer.
Deutsche Zeitungen auf
finnischem Papier Fast 20 Jahre später entstand die Industriestadt Imatra. Dort steht jetzt am Ufer des
Saimaa-Sees das größte Werk Europas für Sulfatzellulose (1982). Dieses Werk wird vom
Konzern Enzo-Gutzeit betrieben, der größte finnische Holzveredelungs- und
Forstbetrieb, gleichzeitig Hauptarbeitgeber in Imatra. Holz
ist Finnlands Gold. Sehr viel wird für die
Papierverarbeitung verwendet. So sind viele deutsche
Zeitungen auf Papier aus finnischem Holz gedruckt.
Im Kraftwerk wird die Energie mit Hilfe von sieben Getrieben gewonnen, wo der
Fluss Vuoksi hindurchrauscht. Durch sie fließen pro Sekunde 900 Kubikmeter Wasser, im Jahr
produziert das Kraftwerk Strom im Umfang von einer Milliarde Kilowatt. Dass die Stromgesellschaft in Finnland über eine große Macht verfügt, zeigt folgende
Geschichte. Nach einer ungewöhnlich großen Schneeschmelze waren die landwirtschaftlichen
Betriebe am Ufer des Saimaa vom Wasser bedroht. Die Regierung verfügte,
dass das Wasser
zu ihrem Schutze über die Stromschnellen abgelassen werden sollte. Die Imatra-Stromwerke
verklagten daraufhin die Regierung für verlorengegangene Verdienstausfälle. Denn Wasser,
welches nicht die Dynamos antreibt, ist verlorenes Wasser, folglich verminderte
Gewinnspanne für die Energiegewinner. Auf dem Gerichtswege gewannen die
Kraftwerksbetreiber und bekamen Schadensersatz zugesprochen.
Urgewalt des Wassers Damit die Stadt Imatra immer noch eine Touristenattraktion hat, wird während der
Sommermonate einmal in der Woche (Meist sonntags um 15 Uhr, aber vorher erkundigen!) die
Schleuse am Stausee geöffnet. Viele Touristen stehen dann auf der Brücke, die die nur 20
Meter breite Schlucht verbindet. Unten ihnen das eben noch trockene Flussbett
des Vuoksi,
jetzt tosend und weißschäumend. Die Urgewalten des Wassers lassen einen heftigen
kühlen Wind vom der Staumauer her aufkommen, die Luft ist mit Wassertropfen gefüllt, und
ein donnerndes Rauschen übertönt die Schnellen und Menschen. Doch nach wenigen Minuten
verebbt diese Wassergewalt, die weißen Schaukronen werden zu armseligen Rinnsalen. Der
harte Fels, geschliffen und geformt von den früheren Wasserkräften, glänzt bunt und
trocken in der Nachmittagssonne.
Sogar im Winter jeweils am 31. Dezember sollen die Schleusen geöffnet werden. Dann
bricht das Eis, das Wasser dampft durch weiße Landschaft. Ein seltenes Winterschauspiel!
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